Keine Angst vor Klimaangst

09.10.2023

Therapeuten und Achtsamkeitslehrende beschreiben eine neue Form der Angst und suchen Wege, damit umzugehen.

In Fachblatt Ärztliche Psychotherapie 18/23 setzen sich mehrere Autor:innen mit einem gesellschaftlichen Phänomen auseinander, der Angst im Zusammenhang mit ökologischen Krisen und erörtern Auswirkungen und Handlungsmöglichkeiten für therapeutische Fachkräfte. Ihrer Erkenntnis nach greift der Blick auf die individuelle Ebene zu kurz. Stattdessen sollte er auf die Notwendigkeit des kollektiven Handels zur Eindämmung der Krise geweitet werden.
 
In den allermeisten Fälle entstehen Ängste als eine gesunde, adaptive Reaktion auf reale und existenzielle Bedrohungen. Auch die Klimaangst ist ein „Signal für Gefahr“ und kann gleichzeitig „Motivator“ für konkretes Verhalten darstellen und damit Energie liefern, die Angstursache zu bekämpfen. Wenn allerdings Handlungsoptionen fehlen, käme es oft zur Angstassimilation durch Umdeutung, Herunterspielen oder Verdrängung, was die eigentliche Problemlösung für Individuum wie Gesellschaft verzögere.

Fight, flight oder freeze?

Die Autor:innen beschreiben drei Reaktionen auf Klimaangst:

  • „fight“: Diese könne im besten Fall zu einem aktiven Eingreifen führen
  • „flight“: kognitive, emotionale oder behaviorale Flucht
  • „freeze“: lähmende Angst

Letztere kann in seltenen Fällen in einer krankhaften Angststörung ähneln, wenn aktive individuelle Bewältigungs- oder Verdrängungsstrategien an ihre Grenzen kommen oder das erlebte Bedrohungsausmaß zu groß wird.

Besondere Verantwortung für Lehrende und Therapeuten

Als Therapeut:in oder Achtsamkeitslehr[DD1] :in dürfe man sich, wenn man mit dem Phänomen Klima-Angst konfrontiert ist, weder von Ohnmacht seines Gegenübers anstecken lassen noch in einen schönfärberischen Optimismus verfallen. Auch Missionierung sei tabu. Stattdessen gehe es darum, den Prozess der Bewusstseins- und Verhaltensänderung offen, aber informiert zu begleiten und auch die eigene Betroffenheit und die vieler Anderer zu benennen (im Sinne der „Universalität des Leides“ (Yalom 2005).

Zwei der Autorinnen, Lea Dohm und Mareike Schulze, haben unter dem Titel "Klimakrise - wie wir an der Umweltkrise wachsen, statt zu verzweifeln" 2022 ein Buch herausgebraucht, das sich auch an ein breiteres Publikum wendet.

Klima-AG im MBSR-MBCT Verband

Seit Januar 2023 gibt es im MBSR-MBCT Verband eine Arbeitsgruppe, die sich explizit mit der Frage befasst, ob und wie die ökologischen Krisen in den Achtsamkeitskursen Eingang finden können. Wenn man Achtsamkeit als Geistesschulung versteht, kann sie dazu beitragen, dass man die oben beschriebenen Gefühle lernt wahrzunehmen und nicht in automatisch ablaufende bisherige Muster verfällt. Die Klima-AG des Verbandes nimmt an der Jahreskonferenz 2023 in Kassel teil und bietet dort am Samstag, den 4.11. einen Workshop an.
 
Dr. Dagmar Schellens ist hier wie auch in mehreren Klimagruppen diverser psychotherapeutischer Fachgesellschaften aktiv. Als Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse und MBSR/MBCT-Lehrerin erlebt sie in ihrer Praxis, dass die Menschen ganz ähnliche Muster und Fragen mitbringen, wie es die Autor:innen des Artikels  benennen.

Klimawandel ist auch nicht nur externe Herausforderung

Gleichzeitig verweist sie auf die Mindfulness Initiative von Wissenschaftlern und Achtsamkeitslehrenden in Großbritannien, die sich mit ihrem Reconnection-Report eindringlich an Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft wendet und darauf hinweist, dass in den gängigen Nachhaltigkeitskonzepten eine entscheidende Beziehungsdimension fehlt: Wenn wir den Klimawandel weiterhin nur als externe, technische Herausforderung betrachten, werden wir weiterhin keine Lösungen finden. Der Bericht zeigt die Notwendigkeit, äußere Ansätze mit innerer Arbeit zu verbinden. Führungskräfte, die diese Notwendigkeit erkennen und darauf reagieren, werden am besten gerüstet sein, jetzt und in Zukunft echte, transformative Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen. Achtsamkeit und Mitgefühl gehören zu den evidenzbasierten, trainierbaren inneren Fähigkeiten, die für diesen Ansatz entscheidend sind.
 

Links

Zum Fachartikel: Dohm, L., Chmielewski, F., Peter, F. & Schulze, M. (2023). Klima-Angst und ökologischer Notfall. Psychotherapeutische Implikationen und Handlungsmöglichkeiten. Ärztliche Psychotherapie 18(1), 5–9. DOI 10.21706/aep-18-1-5 
 

Mindfulness Initiative
 

Klimaangst im Wissenschaftsmagazin Quarks